Reflections on Windowpanes in a Cartoon with Ourselves as Evolving Fictions, 2005-2015


Die Vielzahl der von Robert Estermann eingesetzten künstlerischen Techniken verdankt sich seinem intensiven Interesse an der Entwicklung experimenteller Arbeitsweisen, durch die er zwischen körperlicher Erfahrung, realen und imaginären Räumen zu vermitteln sucht. Sein bildnerischer Grundimpuls liegt von Beginn an im Performativen, das sich seither ausdifferenziert und neue Kommunikationswege gefunden hat. Vor allem in der Zeichnung hat sich der Künstler ein reiches Ausdrucksspektrum erschlossen: Konnte er bereits mit seinen frühen, meist kleinformatigen Bleistiftzeichnungen Grundelemente seiner Bildsprache aufzeigen, so geht er bei seinen neueren Zeichnungen mit schwarzen Faserstiftlinien mit jedem Blatt ein Risiko ein und setzt sich dabei bewusst dem Verdacht des bloss Kontingenten aus. Sie sind anspruchsvoll, insofern sie kompositorische, linguistische, morphologische und topologische Sünden, Überschreitungen, Volten und Sprünge wagen, die herkömmliche Vorstellungen, etwa von «Vollendung» oder von «Gelungensein» unterlaufen. Das vermeintlich Naive oder Triviale entfaltet sich bereits bei minimalem Eigeneinsatz in reale und imaginäre Räume hinein, es verzeichnet Bruchstellen zwischen den verschiedenen Medien und Techniken und erkennt sich in der radikalen Ausübung von Freiheit als eigentlicher künstlerischer Tätigkeit wieder.

Estermanns Zeichnen sucht sich immer wieder neue Gründe – im buchstäblichen und im übertragenen Sinn. So nutzt zum Beispiel seine zeichnerische Installation Reflections on Windowpanes in a Cartoon with Ourselves as Evolving Fictions (2005‒2015) die Oberfläche der Fensterscheiben des Ausstellungsraums. Der Titel beschreibt, was man (vielleicht nicht auf den ersten Blick) sieht: Das aus parallelen Faserstiftstrichen gebildete, in Comics und Karikaturen konventionalisierte Zeichen für spiegelnde oder halbtransparente Glasflächen, das hier auf realen Fenstern angebracht wurde. Der Titel bezieht sich aber auch auf eine andere Ebene, die in den Raum ausgreift und das Publikum mit der vereinnahmenden Wortwahl des «uns» (ourselves as evolving fictions) in ein utopisch-gesamtgesellschaftliches Experimentieren einbezieht, bei dem die Identitäten der Einzelnen als sich entfaltende Entwürfe verstanden werden. Die Reflexionslinien auf den Fensterscheiben sind materiell gewordene Superzeichen, welche die unterschiedlichen Realitätsstufen von Innen und Aussen eines Raums erlebbar machen.

Das Gestische, vorwärts Tastende versteht Estermann nicht nur im Zeichnerischen als performativen Akt, der auf bereits definierte (Kunst-)Räume ausgreift – auch in anderen Medientechniken versucht er, das materielle, körperliche Substrat des Erinnerns, des Erkennens und Vorstellens mit ins Bild zu setzen und dem Publikum verfügbar zu machen. In seinem seit 2016 entwickelten Web-Projekt riding.vision erforscht er mit filmischen und fotografischen Mitteln die affektiven Potenziale der Immersion in eine reale Vorstellungswelt, in der sich das Reiten zu Pferd an endlosen Stränden von der kulturell etablierten Metapher zur ernst gemeinten Zukunftsvision entwickelt und dabei queere und subkulturelle Konnotationen gleichberechtigt neben andere Erkenntnisformen setzt.

Clemens Krümmel, 2018
 


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